
TILI BOM _ for Ferede
musical production, 2020/21
with the financial support of Cultural Office of Berlin Schöneberg
concept, directing, electronics, text, voice - Ynez de Zilón
dance/performance - Ana Kavalis
flutes - Karoline Schulz
Die Performance TILI BOM _ for Ferede befasst sich mit Erfahrungen von Verlust, Hilflosigkeit und Schmerz,
die sich in uns einschreiben und weit über Zeit und Ort des Geschehens hinaus als kollektives
Unbewusstes manifestieren, wenn das Politische gewaltvoll in das Persönliche einbricht.
Zugleich wendet sie sich dem
Aufbegehren zu, dem Widerstand und dem unerschütterlichen Verlangen nach Neugestaltung, die untrennbar damit verbunden sind.
Sie ist Ferede gewidmet und mit ihr der Unzähmbarkeit.
"Wenn Leute darüber reden, dass wir unser Land zurück verlangen müssen, sage ich immer: 'Nein, verlangt lieber die Ungezähmtheit zurück.' Nicht zurückverlangen, sondern verlangen, daran festhalten..."
Die Performance beginnt stimmlich-instrumental mit der Darstellung der persönlichen Begegnung der Sprecherin mit dem tschetschenischen
Mädchen Ferede und deren Familie in einer Erstaufnahmestelle für Geflüchtete. Die Tonaufzeichnung von Feredes
faszinierendem Gesang, der dem Stück seinen Titel gibt und eine zentrale Position darin einnimmt, führte zur
Offenbarung der tragischen Geschichte ihres Vaters. Seine Geschichte steht exemplarisch für die Schicksale
unzähliger Menschen an zahllosen Orten: Ihr Zuhause wurde zum Kampfplatz und sie selbst zu Getriebenen. Sie
beleuchtet die Auswirkungen aufeinander treffender, widerstrebender Interessen und fragt nach den Motivationen
und Bedingungen menschlichen Denkens und Handelns: Wie gelingt es Menschen, im Angesicht von Brutalität und
Grausamkeit ihre Würde zu bewahren? Was vermag menschliche Zartheit und Verletzlichkeit eben jener Gewalt und
Verrohung entgegen zu setzen? Woraus kann die Kraft dazu bezogen werden und worauf basiert in ausweglosen
Situationen die Zuversicht? - Fragen nach dem Menschen-Möglichen, die beides sind: universal und in gleichem
Maße persönlich.
Die Elemente Querflöte, Sprechstimme und Gesang, elektronischer Live-Mix von Tonaufnahmen/field recordings
und Tanz/Performance gehen im Laufe der Inszenierung wechselnde Allianzen ein. Sie werden als gleichberechtigte
Partner verstanden. Die Tänzerin/Performerin ist über das ganze Stück hinweg präsent. Sie ist die körperlich
Anwesende, zu der das Publikum in Beziehung tritt. Sie ist Ferede und Feredes Vater, die Aktivistin Rubati... und gibt
gleichzeitig denjenigen ein Gesicht und eine Präsenz, deren Geschichten wir nicht kennen. Oftmals verkörpert sie mit
einem einzigen Bewegungsablauf mehrere mit der Thematik verknüpfte Aspekte. So markiert ihr minutenlanges
Gehen „im Quadrat“ im Zentrum der Bühne sowohl den gebrochenen Kaukasischen Kreidekreis (den rechtsfreien
Raum) als auch den gebrochenen Tanz der Derwische (spirituelle Praxis des Sufismus nach Rumi, der lange Zeit in
Tschetschenien vorherrschend war, inzwischen durch die Diktatur des Salafismus quasi ausgelöscht wurde). Ihr
rastloses Gehen ohne Ankunft spricht von auferlegtem Zwang und fraglichen Perspektiven sowie von der Qual der
Ausweglosigkeit - am Herkunfts- wie am „Ankunfts“Ort, und flicht mit dem Klang der Schritte auditive Elemente in
die Inszenierung ein.
"Das Herrschaftsverhältnis... fixiert sich in jedem Augenblick der Geschichte in einem Ritual; es schafft
Verpflichtungen und Rechte; es bildet minutiöse Verfahrensweisen aus. Es setzt Markierungen und gräbt in
die Dinge, ja in die Leiber, Erinnerungsspuren ein und führt Rechung über die Schulden.
Dieses Universum von Regeln ist nicht dazu bestimmt, die Gewalt zu mildern, sondern ihr
Vorschub zu leisten. Verkehrt ist auch die überlieferte Vorstellung, dass der allgemeine Krieg sein
Ende findet, indem er sich in seinen eigenen Widersprüchen erschöpft, der Gewalt entsagt und
den Gesetzen des zivilen Friedens weicht. Die Regel ist das kalkulierte Vergnügen der Wut, das
geplante Vergießen von Blut: Ständig erneuert sich das Spiel der Beherrschung, immer wieder
wird Gewalt sorgfältig inszeniert. Die Menschheit verankert all ihre Gewaltsamkeiten in
Regelsystemen und bewegt sich so von Herrschaft zu Herrschaft."
Michel Faucoult in „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“
Aristoteles hat recht. Politicon sagte er vom Homo sapiens – er ist politisch; ontologisch ist er politisch, es gibt keinen unpolitischen Homo sapiens; er ist es, wo er steht, wo er geht, wo er sich äußert – die Politik kriecht durch. Die Existentialität ist durch und durch politisch.
Giwi Margwelaschwili in "Bedeutungswelten"
Ihr aber, Ihr Zuhörer
Der Geschichte vom Kreidekreis, nehmt zur Kenntnis die Meinung
Der Alten, dass da gehören soll, was da ist
Denen, die für es gut sind, also
Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen
Die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird
Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt.
Bertholt Brecht in "Der Kaukasische Kreidekreis"